Wie eine Berliner Verkehrswende sozialdemokratisch aussehen könnte

Ich habe mir im Juni 2021 ein kompaktes E-Bike zugelegt. Grund dafür war in erster Linie, den inneren Schweinehund zu überwinden und die sich angehäuften Corona-Pfunde langsam abzuarbeiten. Während das Gewicht bisher nicht abnahm, nahm jedoch meine Erkenntnis über den Berliner Verkehr zu. Kurz – ich hab da wieder was gelernt!

„Das Chaos auf Berlins Straßen entsteht nur, weil es keine faire Verteilung der Optionen gibt.“

In den wenigen Wochen in denen ich meinem kleinen neuen Hobby E-Bike gefröhnt habe, fuhr ich inzwischen 450 Kilometer. Das sind etwa 400 Kilometer mehr, als ich in den zurückliegenden fünf Jahren Fahrrad gefahren bin. Und nein, ich bin zuvor nicht viel mit dem Auto sondern nahezu ausschließlich mit ÖPNV unterwegs gewesen. Eine Großstadt hat den Vorteil, dass die Strecken meist kurz sind.

Als ich neulich vor einer Baustelle mit meinem Fahrrad abrupt stehen bleiben musste, wurde mich plötzlich ganz klar, was ich in den letzten Wochen durch meinen Perspektivwechsel bereits bemerkt hatte: Das Chaos auf Berlins Straßen entsteht nur, weil es keine faire Verteilung der Optionen gibt.

Denn wo endet einfach mal eine Straße für Autos, ohne dass vorher Verkehrszeichen dieses Ende der Straße ankündigen würden? Wo steht mitten auf der Straße eine Baustelle, an der dann keine Ausweichspuren für die Umfahrung markiert würden? Als Autofahrer ist mir sowas noch nicht passiert – erst recht nicht mitten in einer Großstadt. Da werden Baustellen ausgeschildert, es werden Rad- und Fußwege dafür eingeengt oder gar komplett temporär aufgehoben.

Als Radfahrer passiert es einem mehrfach, dass Radwege plötzlich – mitten auf einer Straße – einfach enden. Es passierte mir in Kreuzberg – dem grün-rot regierten Stadtbezirk mit insgesamt hoher Fahrradnutzung und auch Radfreundlichkeit, dass ich wirklich plötzlich vor einer Baustelle stand. Diese war nicht angekündigt, es war kein Ausweichradweg markiert. Undenkbar für eine Autostraße. Und eine Gefahrenquelle.

Und damit will ich auch auf die Überschrift zurückkommen. Denn ich bin Mitglied der SPD und habe mich bereits kurzzeitig in einem Kreis zum Thema Verkehr und Mobilität engagiert. Allerdings habe ich irgendwann entnervt aufgegeben, weil mir vieles zu sehr nach Parole und zu wenig nach echter Verbesserung klang. Ja, vermutlich habe ich da im ersten Versuch nicht die passende Ausdauer mitgebracht. Einen neuen Anlauf nehme ich nun hier und will mal schauen, wie ich das in die Partei tragen kann. Mir ist klar, dass dieser Text nur ein Auftakt sein kann. Parteiarbeit ist Marathon.

Sozialdemokratisch ist nach meinem Verständnis in erster Linie Fairness. Und die ist im Berliner Stadtverkehr eher nicht gegeben. Wir haben zwar das wohl beste ÖPNV-Netz in Deutschland, aber in Sachen Straße, ist die Stadt wahnsinnig autozentriert organisiert. Da wir eine Verkehrswende benötigen, die deutlich mehr als nur einen Tausch der Antriebe vom Verbrenner zum Elektromotor liefern soll, braucht es auch eine Neuausrichtung zwischen FußgängerInnen, RadlerInnen und Autos. Hier kommen deshalb meine Vorschläge dazu:

1. Fußwege den FußgängerInnen

In Berlin fährt alles mögliche auf dem Fußweg. Im Normalfall haben aber weder RadlerInnen (gern auch mal mit E-Bikes) etwas auf den Fußwegen zu suchen, noch die verschiedenen Sharing-Fahrzeuge (E-Scooter, E-Mopeds, E-Bikes, Fahrräder und anderes) sollten auf den Fußwegen zu suchen haben. In Berlin ist es für mich in den letzten Jahren zu einer gewissen Qual geworden, den Fußweg zu benutzen. Im schlimmsten Fall könnten ähnliche Erlebnisse, Menschen dazu verleiten, wieder auf das Auto umzusteigen. Das liegt am Cocooning-Effekt, der einem das Gefühl gibt, im Auto sicher zu sein. Ein Effekt den man bereits mit mehreren Studien für die Pandemie-Zeit belegt hat. Und ein Effekt, der der Stadt auf keinen Fall einen Nutzen verspricht.

2. Parkplätze neu nutzen

Doch wohin mit all den Fahrzeugen, die auf den Fußwegen bisher geparkt wurden zum Beispiel? Pro Straße sollten einfach mehrere Auto-Parkplätze als Parkraum für Sharing-Fahrzeuge, die kleiner als Autos sind, umgenutzt werden. Es gibt dafür bereits erste Initiativen, wie z.B. im Friedrichshain am Boxhagener Platz. Wenn in jeder Berliner Straße sukzessive Parkbuchten umgewandelt würden – gern in einem verbindlichen und kommunizierten Zeitraum, dann dürfte sich ein Teil des Chaos schon mal entschärfen.

2.1. Parkplätze für alternative Logistik

In den Städten etablieren sich seit Jahren immer mehr Logistikdienstleister, die nicht mehr nur klassisch auf den Transporter setzen. E-Bikes, Cargobikes und andere Kleinfahrzeuge werden inzwischen viel genutzt. In jeder Straße sollte es privilegierte Parkzonen für ALLE Logistikdienstleister geben. Das spart sinnloses Umherfahren auf der Suche nach einem Parkplatz. Es verringert sicherlich auch Unfallsituationen, weil weniger gefährdend geparkt wird.

2.2. Flächen für Gastro festschreiben

In der Pandemie wurde es möglich, umliegende Parkplätze für die Gastronomie zu nutzen. Aus meiner Sicht gibt es keinen Grund, diese Flächen nicht auch zukünftig der Gastronomie und/oder sie der Allgemeinheit zu überlassen, die sie ehrenamtlich gestalten kann. Dafür gibt es längst Konzepte, wie es auch BaumPatInnen und ähnliches gibt. Sozialdemokratisch wäre diese Lösung aus einem banalen Grund: Die Stadt wird verdichtet, Brachen und andere Freiflächen werden dem Wohnungsbau geopfert, die Stadt verliert dadurch an Lebensqalität und solche kleinen Parkplatzflächen sind wenigstens ein kleiner Ausgleich für das weitere Versiegeln durch Neubauten und deutlich gestiegene Mieten.

3. Radwege in allen Straßen

Corona hat gezeigt, dass es plötzlich Pop-Up-Radwege geben kann. Plötzlich gab es offenbar Optionen, den ach so strengen Paragraphendschungel so zu durchschiffen, dass solche Aktionen möglich waren. Hier kann man also von sozialdemokratischer Politik verlangen, dass sie diese neuen Optionen auch manifestiert und der Stadt somit etwas mehr Gleichgewicht zwischen Auto und Fahrrad zurückgibt.
Ein echtes Gleichgewicht gäbe es jedoch erst, wenn in jeder Autostraße auch passende Radwege ausgezeichnet sind. Auf Hauptstraßen sollte sogar eine bauliche Trennung angestrebt werden.

3.1. Radwege auch für Kleinlogistik ausrichten

Die vielen Logistikservices, die mit E-Bikes und anderen Cargo-Kleinfahrzeugen ausliefern, sollten ebenfalls von Radwegen profitieren. Dafür ist es auch notwendig, neue Radwege entsprechend so zu denken, zu konzipieren und auch umzusetzen. Die Stadt und ihre Bevölkerung profitiert davon: weniger Emissionen, entzerrte Logistikprozesse, weniger Stress.

4. Das Ordnungsamt ist gefragt

Nahezu täglich erlebt man das Personal des Ordnungsamtes, das in der Parkraumbewirtschaftung für „Ordnung“ sorgen soll. Es werden einträgliche Knöllchen geschrieben. Warum ignoriert dieses Personal jedoch häufig, wenn AutofahrerInnen ihre Fahrzeuge auf Radwegen zwischenparken? Hier sollte das Personal so geschult werden, dass es auch auf verbale Auseinandersetzungen mit AutofahrerInnen souverän reagieren kann. Im Zweifel muss leider die Polizei hinzugezogen werden können. Denn durch auf Radwegen parkende Autos sind in den letzten Jahren zu viele Unfälle provoziert worden, da muss die Stadt auch aus der Perspektive einer Fürsorgepflicht für faire Bedingungen sorgen und diese auch durchsetzen. U.a. dafür zahlen wir alle Steuern.

5. E-Auto- und -Sharing-Parkplätze endlich frei halten

Apropos Ordnungsamt: Ich bin auch E-Autofahrer und nutze manchmal Carsharing. Viel zu oft sind Ladesäulen in Gegenden zugeparkt, die noch nicht in der Parkraumbewirtschaftung sind. Da fühlt sich offenbar weder das Ordnungsamt noch die Polizei besonders bemüssigt, diese zuparkenden Fahrzeuge kostenpflichtig entfernen zu lassen. In der Stadt gibt es nahezu unzählige Parkplätze für Verbrenner. Warum kann man dann nicht für umweltfreundlichere Fahrzeuge die entsprechend ausgezeichneten Parkplätze so freihalten, dass sie auch nutzbar sind? Hier sollte das Personal wohl entsprechend sensibilisiert werden.

6. Parkraumbewirtschaftung komplett

Parkplätze – sprich Straßenland – kosten die Stadt und damit alle BürgerInnen sehr viel Geld. Klar haben auch BürgerInnen ohne eigenes Auto ihre Vorteile, denn eine Stadtlogistik wäre ohne Straßen mühsam oder gar unmöglich. Trotzdem ist es nicht nachvollziehbar, warum in einigen Kiezen der Stadt Parkraumbewirtschaftung stattfindet und in anderen nicht. Das ist eine ungleiche Behandlung, die auch jeder fairen Logik entbehrt. Deshalb sollte grundsätzlich in Berlin eine Parkraumbewirtschaftung stattfinden. Mit einer entsprechenden digitalen Infrastruktur ist das auch keine Raketenwissenschaft. Private Anbieter gibt es für das Bezahlen genug. Für die privilegierte Nutzung von Parkflächen kann man Anträge stellen, die digitale Verwaltung kann das mit KI und ordentlichen Prozessen auch längst teilautomatisiert abarbeiten. Menschen, die ordentliche Begründungen liefern können, sollten damit auch die Möglichkeit eines privilegierten Parkplatzes bekommen können. Der Katalog für die Begründung muss jedoch vorab ausgearbeitet, später aktualisiert werden und transparent sein und nicht zu niedrigschwellig.

7. Verkehrsberuhigung in allen Wohnvierteln

Unserem Kiez wurde – auch mit viel Unterstützung lokaler SPDlerInnen – mit Pollern eine Verkehrsberuhigung zuteil. Das sorgte auf jeden Fall dafür, dass zahlreiche Autos weniger im Kiez unterwegs sind, die sonst allein deshalb durch das Wohnviertel fuhren, weil ihre FahrerInnen nach Abkürzungen und Umfahrungen von Staus auf den umliegenden Hauptstraßen suchten. Radwege in den Kiezen und Poller dürften zu einer weiteren Verkehrsberuhigung führen, die auch die Lebensqualität in den Quartieren verbessert. Das ist bei den immer weiter steigenden Mieten auch ein wenig Ausgleich, der mit Sicherheit auch mit den Statuten und Programmen der SPD übereinstimmen dürfte.

8. Sehr gute Datenpflege für Navisysteme

Logistiker, Autos und auch RadlerInnen sind immer mehr mit Navigationssystemen unterwegs. Eine entsprechend offene und sehr gute Open Data Policy der Stadt ist dringend notwendig. Es darf eigentlich nicht mehr sein, dass man Baustellen auch eine Woche nach Eröffnung noch nicht in den verschiedenen Navis zu sehen bekommt. Navi-Anbieter sollten die Daten frei nutzen dürfen, jedoch dazu verpflichtet werden, dass sie diese auch den NutzerInnen weiterreichen müssen. Das dürfte die Stadt billiger kommen als teure und wartungsintensive Verkehrsleitsysteme zu installieren.

9. Sharinganbieter zu Wechselsystemen motivieren

E-Scooter, E-Mopeds, E-Bikes und E-Cargoräder haben das E gemeinsam vorweggestellt, weil sie elektrisch angetrieben werden. Die verschiedenen Anbieter haben meist sehr unterschiedliche Fahrzeuge, jedoch mit der gleichen Antriebsart. Dies bedeutet, sie könnten auch auf Batteriewechselsysteme setzen. Einzelne Sharing-Anbieter tun das bereits. Allerdings sind die Akkus der Anbieter weder zwischen den Anbietern kompatibel noch können Sie ein E-Bike mit dem Akku eines E-Scooters versorgen. Technisch ist das aber eigentlich kein Problem. Die Stadt müsste motivierende Maßnahmen ergreifen, die dazu führen, dass alle NutzerInnen einfach an Batteriewechselstationen, den Akku ihres Sharingscooters in der Station zum Laden geben und im Zweifel einen baugleichen voll geladenen Akku aus der Station entnehmen und auch in das nächstgelegene Sharingbike schieben können. Ein Wechselsystem, das für sämtliche Sharing-Kleinfahrzeuge kompatibel ist, spart Logistikeinsätze für die einzelnen Anbieter, reduziert damit auch wieder Verkehr.

10. Paketstationen in jeder Straße

Die sogenannte letzte Meile ist durch verschiedenste Lieferdienste in Berlin maximal ausgelastet. Würden in jeder Straße Paketladestationen stehen und für alle Anbieter offen nutzbar sein, dürfte sich ein Teil des Warenlieferverkehrs ebenfalls entspannen. Technologisch ist auch das keine Raketenwissenschaft mehr. Berlin müsste nur ein sinnvolles Konzept mit der Wirtschaft suchen und sie animieren – vielleicht sogar zeitweise privilegieren. Wirtschaftsförderung hat ja sonst solche Tools auch, wenn es um die Ansiedlung neuer und großer Unternehmen geht.

11. ÖPNV first!

Ganz grundsätzlich sollte in Berlin feststehen, dass ÖPNV immer oberste Priorität hat. Hierbei muss man zukünftig auch darauf achten, wie dieser Service auch mit neuen Mobilitätskonzepten verknüpft werden kann. Die BVG ist eine Landesgesellschaft. Damit muss es möglich sein, auch z.B. Ride-Pooling-Konzepte fest in Angebot aufzunehmen – zukünftig auch ohne lange „Testzeiträume“. Es gibt keinerlei Grund mehr, dass in der Stadt alles so gemacht werden muss, wie immer. Vermutlich ist es sogar machbar, dass man das Sharing-Ökosystem noch enger mit der BVG verzahnt. Die Jelbi-App und -Stationen der BVG sind ein richtiger erster Schritt dafür. Die Stadt sollte sämtliche Sharinganbieter motivieren, zu fairen und offenen Konditionen dabei zu sein.

12. Emanzipation der Stadt

Berlin wird immer größer. Generell gehört nach allgemeiner Forschungslage den Städten die Zukunft. Sie werden sich zu Metropolen weiterentwickeln. Damit stehen sie vor riesigen Herausforderungen und das Thema Mobilität ist dabei ein wichtiger Punkt. Ganz grundsätzlich sollte sich Berlin mehr emanzipieren und Trends nicht hinterlaufen, auch um solchen irrsinnigen Erscheinungen wie dem Bike-Sharing-Krieg von Obike, Mobike und Co. Vorschub zu leisten. Die Stadt muss schlüssige Vorgaben machen, faire Regeln festlegen und diese anschließend auch kosteneffizient kontrollieren. Gerade weil das technologisch auch datenschutzkonform und anonym passieren kann – jedes Sharingfahrzeug kann vom Anbieter getrackt werden, muss die Stadt dort die Chancen ergreifen und sich mit breitem Rücken aufstellen. Ich bin mir sicher, Berlin kann das. Wir leben hier in einer der erfolgreichsten Startup-Regionen Europas. Da ist fast alles möglich, wenn man nur Verständnis und Willen mitbringt.

Diese 12 Ideen sind an vielen Stellen nicht neu. Aber ich glaube, nach dem was ich innerhalb meiner Partei erlebt habe, dass sie vielleicht einen einfachen Zugang zum Thema geben können. Ich freue mich auf reges Feedback via Twitter an meinen Account und behalte mir vor, weitere Anregungen in den Text nachträglich einzupflegen.

PS: Dieser Text soll in Summe nicht als Kritik verstanden werden. Ich weiß, dass in den letzten Jahren bereits einiges passiert ist. Ich bin auch kein Fan, ständig negative Narrative der Art „es passiert ja nichts“ zu bedienen. Ich bin nur etwas genervt, weil im Berliner Wahlkampf durch die SPD-Spitzenkandidatin Frau Giffey Äußerungen getätigt wurden, die nicht für eine moderne Verkehrspolitik stehen. Generell habe ich das Gefühl, dass die SPD in Sachen Mobilitätswende zu wenig progressiv denkt und agiert.

Danke für die Aufmerksamkeit.