Ost und West – eine kleine „Erleuchtung“

Ein doppelt Geimpfter war gestern in Gifhorn. Für Leute, die wie ich, nicht genau wissen oder wussten, wo Gifhorn liegt: Das Städtchen befindet sich oberhalb von Braunchscheig und links von Wolfsburg in Niedersachsen. Also für einen gebürtigen Ostberliner schon mal tief im Westen, obwohl der tiefe Westen mit dem Blick von Herbert Grönemeyer eher Bochum wäre.

Jedenfalls war ich gestern auf kurzer Visite in Gifhorn, weil ich dort in Ruhe mein eAuto laden konnte und genügend Zeit hatte, durch die kleine Innenstadt zu tingeln und am Schloss und See vorbeizuschauen.

Während ich nach dem ersten Rundgang auf meine handgeschnittenen „Mexican Style Pommes“ vor einer Burger Manufaktur gewartet habe, ließ ich die ersten Eindrücke Revue passieren. Und siehe da, es kam mir eine kleine „Erleuchtung“ – mehr als 30 Jahre nach der Wiedervereinigung.

Was im Osten fehlt(e)

Eigentlich fällt mir es jedes Mal auf, wenn ich in die alten Bundesländer reise. Selbst eine Kleinstadt wie Gifhorn ist bunter als nahezu jede Stadt in den neuen Bundesländern. Als ich so wartend auf meine Pommes vor mich hinsinnierte, kam ich zur steilen Arbeitshypothese, dass uns in der DDR selbst der normale und alltägliche Umgang mit den Sowjets fehlte. Sowohl die DDR als auch die Sowjetunion legten damals großen Wert darauf, dass die Ansiedlung von Menschen aus der Sowjetunion in der DDR NICHT zur Normalität wurde. Sich anbahnende Liebespaare zwischen sowjetischen Soldaten und BürgerInnen aus der DDR waren für die Oberen ein Problem. Leute, die gar die Ehe eingehen wollten, hatten es dabei nicht einfach – auch wenn es möglich war.

Gleiches passierte auch mit Menschen aus Vietnam, Kuba und Staaten des afrikanischen Kontinents, die in der DDR zur „Ausbildung“ waren. Heute wissen wir, dass bspw. die Leute aus Vietnam zwar eine Ausbildung bekamen, jedoch im Wesentlichen ausländische Arbeitskräfte waren, die in viel zu kleinen Wohnheimzimmern etwa fünf Jahre in der DDR hart arbeiten mussten. Ich frage mich, ob man das nicht als Zwangsarbeit bezeichnen müsste.

Im städtischen Alltag fanden diese Menschen aus Vietnam eigentlich nicht statt. Sie lebten in besagten Wohnheimen – offenbar auch bewusst abgeschirmt.

Ich weiß leider nicht, ob dieses Schicksal den Großteil der ausländischen ArbeiterInnen in der DDR ereilte. Ich bin mir nur verhältnismäßig sicher, dass zumindest die Studierenden aus den afrikanischen Staaten und anderen Ländern wohl eine recht angenehme Zeit in der DDR gehabt haben sollen. Sie fanden durchaus auch im Alltag der Städte statt – auch wenn sie ein seltener Anblick waren.

Anders war es natürlich mit Menschen aus den Staaten des Warschauer Paktes. Aber woran erkennt man äußerlich die Menschen aus Osteuropa? Ich weiß es gar nicht. Und ich will hier nur kurz überhaupt auf das Aussehen eingehen, weil das auf den ersten Blick zeigt: Dieser Mensch könnte einen anderen kulturellen Hintergrund haben als ich – mehr nicht. Es ist ein optisches Indiz.

Gleichzeitig war es eben genau dieses öffentliche Bild, dass mich in Gifhorn überhaupt zu den hier skizzierten Gedanken kommen ließ. Ich nahm zahlreiche Menschen wahr, die selbst oder ihre Vorfahren einen internationalen kulturellen Hintergrund mit in die niedersächsische Kleinstadt brachten. Es war mir klar, sie addierten etwas dazu, machten das Leben, die Kultur dieser Stadt bunter.

Westdeutsche Normalität?

Mich rührte diese Normalität. Gleichzeitig hatte ich das Gefühl, die Integration hat an zahlreichen Punkten funktioniert.

Ich nahm keine argwöhnigen Blicke wahr, wenn da Menschen dunkler Hautfarbe im Café sitzend telefonierten – zum Beispiel.

Ich glaube, der Grad der Integration in einer Gesellschaft lässt sich auch dadurch wahrnehmen, wie fließend die örtliche Landessprache gesprochen wird. Denn dazu gehören nicht nur Menschen, die einen anderen kulturellen Hintergrund haben, sondern insbesondere ein entsprechendes Bildungssystem, dass es möglich macht, Menschen mit bi- oder gar multilingualem Aufwachsen, die Landessprache so zu vermitteln, dass sie für sie einfach und normal ist.

Ich lernte erst 2015/16 das Wort „Willkommenskultur“ kennen und inzwischen bin ich mir sicher, dass dies ein Ausdruck eines komplexen Systems von Integrationsarbeit ist, der insbesondere von hier geborenen Menschen bzw. hier schon sehr lange lebenden Menschen geleistet werden sollte.

Ein weiterer Punkt, der mir in Gifhorn zwar nicht auffiel, aber der mir in den letzten 30 Jahren durch Reisen in die alten Bundesländer und im Umgang mit KollegInnen aus diesen Regionen aufgefallen ist: Die westlichen Alliierten waren nach 1945 ein immer normaler werdender Bestandteil bundesdeutschen Lebens. Leute aus dem Mannheimer/ Frankfurter Raum bspw. erzählten mir von den coolen Clubs, in denen sie verkehrten, wo sie auf GIs trafen. Sie erzählten mir von den Burger-Läden, die ehemalige GIs aufmachten, nachdem sie den Militärdienst beendet hatten und in Deutschland blieben.

Ähnliches erzählten mir auch KollegInnen aus „Westberlin“. Es war vollkommen normal, dass man in Restaurants und Clubs ging, wo man auf Soldaten und zivile Arbeitskräfte der westlichen Alliierten traf. In Ostberlin traf man kaum bis gar nicht auf sowjetische Soldaten in ihrem normalen Alltag. Es blieb sehr viel getrennt.

Noch viel entscheidender dürfte der Alltag in der Bundesrepublik gewesen sein. Spätestens in der Schule traf man auf die Kinder von Menschen aus anderen Kulturen. Denn die Bundesrepublik war mindestens in Richtung westliche Staaten offen. Auch Menschen aus Osteuropa kamen in die Bundesrepublik und blieben. So war es wohl normal, dass man in seiner Klasse Kinder hatte, die verschiedene Sprachen und Kulturen mitbrachten. Und so konnten alle Kinder spielerisch und selbstverständlich voneinander lernen.

Vergessen will ich auch nicht die Menschen, die als sogenannte „GastarbeiterInnen“ in die Bundesrepublik gelockt wurden. Immer wieder ist davon die Rede, das „deutsche Wirtschaftswunder“ hätte zusätzlich ausländische Arbeitskräfte gebraucht. Tatsächlich hatte Deutschland nur wenige Jahre zuvor wieder einen Weltkrieg entfacht, der Millionen von Menschen das Leben kostete. Da waren natürlich auch „Deutsche unter den Opfern“. Und auch diese fehlten in der „Wirtschaftswunderzeit“. Also mussten Menschen aus anderen Ländern rekrutiert werden. Sie kamen, sollten jedoch nicht bleiben. Woher kam sonst dieser Begriff „Gastarbeiter“?

Viele blieben jedoch. Sie wurden schlecht behandelt, diskriminiert. Aber sie wurden trotzdem Teil der Bundesrepublik, prägten das Bild, die Kultur und die Küche dieses Landes mit. Es entstanden Restaurants – die im Stadtbild wahrnehmbar waren. Wie oben schon beschrieben, gingen die Kinder der z.B. GriechInnen, TürkInnen oder ItalienerInnen in die örtlichen Schulen – und auch sie brachten und bringen ihren Teil mit ein, der anderen Kindern neue Erfahrungen ermöglicht.

Meine Erfahrungen

All das fand in der DDR kaum statt. Ich erinnere mich: In meinem ostberliner Stadtteil – dort wo der originale Grenzübergang „Sonnenallee“ eigentlich stand – gab es genau einen Jungen mit einem Vater, der vermutlich aus einem afrikanischen Land stammte. Leider erinnere ich seinen Namen nicht. Aber ich weiß ziemlich sicher, dass dieser Junge alltäglichen Rassismus erfuhr.
Auch nach der Wende – ich wechselte an ein frisch eingerichtetes Gymnasium am südlichen Stadtrand von „Ostberlin“ – gab es so gut wie keine SchülerInnen, deren kultureller Hintergrund meine ostdeutsche Sicht hätte bunter machen können.

Ich erinnere mich an erste Begegnungen mit Jugendlichen, die aus dem angrenzenden Stadtbezirk Neukölln (ehemals Westberlin) kamen, um mit uns Fußball zu spielen. Wir waren alle so um die 15 Jahre alt. Die Jungs aus Neukölln mussten so 17, 18,19 gewesen sein. Sie kamen mit einem Opel, aus dem sie zu acht ausstiegen und fragten, ob sie gegen uns auf unserem hoch umzäunten Aschenplatz spielen könnten. Wir hatten Angst. Angst, weil bereits die Vorurteile schneller bei uns waren, als wir Menschen mit anderem kulturellen Hintergrund gesehen oder gesprochen hatten. Es war die Angst vor Gewalt. Es hieß damals „die Türken aus Neukölln sind brutal“. Ich weiß gar nicht, ob es Türken waren oder Leute, die in kurdischen oder arabischen Kontext aufgewachsen sind. Erstmal waren es Jungs, denen wir die Frage nach einem Spiel schon mal mit „Ja“ beantworteten, weil wir der Meinung waren, ein „Nein“ hätten sie eh nicht akzeptiert.

Das Ende dieser Episode? Die Neuköllner waren einfach nur sehr geile Fußballer. Sie spielten unfassbar gut und sehr viel fairer als wir. Jegliche Angst war vollkommen unbegründet.

Sie kamen bald regelmäßiger, wir lernten in Sachen Fußball jede Menge dazu. Allerdings schafften wir es offenbar alle nicht, Bande zu knüpfen. Es entwickelten sich meines Wissens keinerlei Freundschaften. Irgendwann hatte ich einen Freundeskreis durch mein neues Gymnasium zum großen Teil gewechselt. Da gab es immerhin nicht mehr nur Jungen, sondern auch Mädchen. Und die waren dann für mich auch interessanter in dieser Phase …

Heute habe ich in meinem Freundkreis – ja noch mal betont – kaum bis gar keine Menschen, die oder deren Familien einen anderen kulturellen Hintergrund als einen deutschen haben. Auch in meiner Arbeitswelt ist dieser Kontakt selten.

Und das wurde mir in Gifhorn wieder klar. Und ich frage mich, was mir dadurch auch entgangen ist, an Sichweisen, an Spaß, und weil ich so gern koche, frage ich mich, was ich an internationaler Küche alles nicht kenne.

Berlin ist speziell

Der DDR und den neuen Bundesländern fehlt bis heute das Bunte. Hier in Berlin gleicht sich das Bild langsam etwas an. In der Grundschule im Friedrichshain (ehemals Ostberlin) unserer Söhne gibt es immer mehr Vielfalt. Allerdings sind es hier vorrangig die Kids der Leute mit den sogenannten „guten Pässen“. Das ist eine eher uncharmante Umschreibung für Leute aus den westlich orientierten Staaten. „Gute Pässe“ sind es deshalb, weil man als InhaberIn eines solchen Passes international besser reisen kann und auch in Deutschland vieles einfach sein soll. Ich will mit meinem Hinweis darauf hinaus: Die Vielfalt im Friedrichshain bleibt westlich geprägt.

In der weiterführenden Schule unseres Ältesten – sie liegt auch im Friedrichshain – ist die Vielfalt inzwischen groß. Ich bin glücklich darüber, dass unser Kind so die Chance hat, mehr Erfahrungen zu sammeln als ich. Und dabei geht es nicht nur darum, die Unterschiede zu erleben und zu erfahren, sondern sehr viel mehr auch darum: Menschen sind zwar verschieden, aber an vielen Stellen ist das komplett irrelevant.

In den neuen Bundesländern sieht das zum großen Teil noch anders aus. Noch immer leben dort wenige Menschen, die internationale Einflüsse mitbringen – das wird eins ums andere Jahr auch statistisch belegt.

Ja klar, da ist der Döner-Imbiss oder das italienische oder griechische Restaurant, aber das selbstverständliche bunte Stadtbild fehlt. Denn es fehlt leider doch viel zu oft die Offenheit, das Wollen von Willkommenskultur. Es gibt zahlreiche Initiative von weltoffenen BürgerInnen. Politisch sind sie oft nicht genügend unterstützt, manchmal aus Bequemlichkeit auch nicht gewollt – so mein Eindruck aus Gesprächen mit Leuten, die sich in solchen Initiativen engagieren.

Gifhorn hat mir wieder gezeigt, wie viele Chancen in ostdeutschen Gemeinden nicht genutzt werden können, weil ein offenerer Blick fehlt. Ein Blick, er erst möglich scheint, wenn man internationale Einflüsse zulässt und sie die dann auch bekommt und nutzen kann.

ps: Ich weiß, dass es die Menschen mit internationalem kulturellen Hintergrund auch in den alten Bundesländern nicht einfach haben. Das ist hinlänglich bekannt und es gibt keine Option mehr, das Problem zu negieren oder zu verharmlosen. Ich möchte an keiner Stelle, eine heile Welt skizieren. Ich bin mir bewusst, wie privilegiert ich in Deutschland bin. Der Text ist nur eine Momentaufnahme von Gedanken eines 1976 in Ostberlin Geborenen, der manchmal traurig ist, weil er merkt, dass ihm in Sachen kulturelle Vielfalt Erfahrungen fehlen – bis heute.